„Aggressive“ Freundlichkeit

David Wilkerson (1931-2011)

Der heilige Dienst der Versöhnung

Die meisten Christen, die ich kenne, sind freundlich, liebevoll, rücksichtsvoll, fürsorglich und hilfsbereit. Ich glaube, nur wenige in der Gemeinde halten sich selbst für unfreundlich. Ich meine, dass wir keine wahren Christen sein können, wenn wir unfreundlich sind.

Wenn wir an freundliche Menschen denken, haben wir die Vorstellung von ruhigen, einfühlsamen Männern und Frauen, die offenbar nie ein negatives Wort über andere verlieren. Sie sind liebenswürdig und umsichtig, immer bereit, etwas für andere Menschen zu tun, und haben stets ein freundliches Wort auf den Lippen.

Das alles sind wunderbare Eigenschaften. Doch diese Art der Freundlichkeit, die von den meisten Christen praktiziert wird, ist sehr passiv und in ihrem Handeln begrenzt. In Wirklichkeit bleibt sie weit hinter der Freundlichkeit zurück, zu der uns die Bibel aufruft.

Ich möchte eine andere Art der Freundlichkeit in den Blick nehmen: eine „aggressive“, aus sich herausgehende Freundlichkeit. Aggression ist energisch auf ein Ziel gerichtet. Sie geht voran, ergreift die Initiative. Eine Freundlichkeit mit diesem aggressiven Charakter geht aus Liebe mutig ans Werk.

Das gilt für die Freundlichkeit, zu der wir in der Bibel aufgerufen werden. Sie geht aus sich heraus. Sie kann nicht passiv sein, kann nicht nur im Herzen empfunden werden. Ihr geht es um mehr als gute, liebevolle Gedanken und Gebete für andere.

Viele Bibelabschnitte zeigen klar, dass unsere Freundlichkeit aktiv sein muss. Paulus schrieb: „Vergeltet niemand Böses mit Bösem; seid bedacht auf das, was ehrbar ist vor allen Menschen! Wenn möglich, soviel an euch ist, lebt mit allen Menschen in Frieden!“ (Römer 12,17-18). Wir verstehen das so: „Ich werde nicht zurückschlagen, wenn ich verletzt werde. Ganz gleich, was andere über mich sagen: Ich werde kein böses Wort über sie verlieren. Ich werde keine Rache üben.“

Das klingt gut, aber beachten Sie, dass das alles völlig passiv ist. Die meisten Christen begnügen sich mit dieser passiven Art von Freundlichkeit. Doch derselbe Abschnitt im Römerbrief ruft mit einem Zitat aus Sprüche 25,21-22 zu aktivem Handeln auf: „Wenn nun deinen Feind hungert, so speise ihn; wenn ihn dürstet, so gib ihm zu trinken! Denn wenn du das tust, wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln: Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit dem Guten!“ (Verse 20-21).

Alles, was hier genannt wird, ist aktives, offensives Handeln. Nichts daran ist defensiv oder passiv.

Wenn ein feindseliger Mensch, der ein Christ ist, Sie verfolgt, können Sie keine passive Freundlichkeit praktizieren.

Passive Freundlichkeit sagt: „Ich habe meiner Schwester im Herrn vergeben. Ich werde für sie beten, aber sie soll sich von mir fernhalten. Solange sie mich in Ruhe lässt, ist alles in Ordnung. Sie soll ihren Weg gehen, und ich gehe meinen.“

Jesus spricht von aktiver Liebe. „Doch liebt eure Feinde, und tut Gutes, und leiht, ohne etwas wieder zu erhoffen! Und euer Lohn wird groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen“ (Lukas 6,35). Darin liegt der Schlüssel zu „aggressiver“ Freundlichkeit. Es geht um mehr, als nur für unsere Feinde zu beten und Rache aus unserem Herzen zu verbannen. Es geht um unser aktives Bemühen, ihnen Gutes zu tun.

Ja, wir gehen ein Risiko ein, wenn wir uns entscheiden, mit aktiver Freundlichkeit zu handeln. Paulus sagte zu den Korinthern: „Ich will aber sehr gern alles aufwenden und mich aufopfern für eure Seelen. Wenn ich euch also noch mehr liebe, werde ich dann weniger wiedergeliebt?“ (2. Korinther 12,15). Es ist wahr, dass wir anscheinend immer am meisten von denen verletzt werden, denen wir geholfen haben. Diejenigen, die uns am nächsten stehen, sind in der Lage, uns am meisten zu verletzen.

Wenn wir eine solche Zurückweisung erfahren, würden wir uns am liebsten in unser Schneckenhaus zurückziehen. Wir sagen uns: „Nie wieder lasse ich mich so verletzen. Für mich ist hier die Grenze erreicht.“

Mose sagt das Gegenteil. Durch sein Gebot an das alte Israel liefert er uns ein sehr ungewöhnliches Beispiel für aktive Freundlichkeit: „Wenn du das Rind deines Feindes oder seinen Esel umherirrend antriffst, sollst du sie ihm auf jeden Fall zurückbringen. Wenn du den Esel deines Hassers unter seiner Last zusammengebrochen siehst, dann lass ihn nicht ohne Beistand; du sollst ihn mit ihm zusammen aufrichten“ (2. Mose 23,4-5).

Ihr „Feind“ ist jemand, der Sie verletzt hat, der Sie verleumdet, der mit anderen gemeinsame Sache macht, Ihnen zu schaden. Nun gehen Sie die Straße lang und sehen, wie der Esel dieses Feindes zusammenbricht. Sie wissen, dass dieser Esel seine Einkommensquelle ist, so wertvoll für ihn, wie es für uns heute ein Auto wäre. Von diesem Esel hängt buchstäblich die Versorgung der Familie Ihres Feindes ab.

Was sollen Sie tun? Die Bibel sagt, dass Sie als Mann oder Frau Gottes nicht schadenfroh zusehen, sondern zu Ihrem Feind hingehen und seinem Esel aufhelfen. „Du [sollst] sie ihm auf jeden Fall zurückbringen … lass ihn nicht ohne Beistand; du sollst ihn mit ihm zusammen aufrichten“ (Verse 4-5). Mit anderen Worten: „Spring ein und hilf deinem Feind!“ Hier wird das Bild zweier Menschen gezeichnet, die unter einer gemeinsamen Last schwitzen; es ist ein Akt, der Versöhnung bringen wird.

Ihr Handeln in aktiver Freundlichkeit kann helfen, den Krieg in der Seele Ihres Feindes zu beenden.

Das Kreuz Christi ist der Inbegriff „aggressiver“ Freundlichkeit. Sind Sie nicht froh, dass Gottes Wort nicht bei der passiven Aussage bleibt: „Gott hat die Menschen so sehr geliebt“ (Johannes 3,16; GNB). Sind Sie nicht froh, dass der Herr den gewaltigen Schritt wagte, zu uns in unserer Verdorbenheit zu kommen und die Last unserer Schuld auf sich zu nehmen, um uns zu versöhnen?

Auch der Dienst der Versöhnung, zu dem wir berufen sind, geschieht durch Taten energischer Freundlichkeit. „Seid aber zueinander gütig, mitleidig, und vergebt einander, so wie auch Gott in Christus euch vergeben hat!“ (Epheser 4,32).

Wir können aber erst dann in wahrer biblischer Freundlichkeit handeln, wenn wir den „neuen Menschen“ angelegt haben, von dem Paulus spricht. „Belügt einander nicht, da ihr den alten Menschen mit seinen Handlungen ausgezogen und den neuen angezogen habt, der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Bild dessen, der ihn erschaffen hat!“ (Kolosser 3,9-10).

Jesus gab uns ein Gebot, eine aktive Freundlichkeit zu praktizieren, zu der nur wenige bereit sind.

Moffet übersetzt Matthäus 5,22-24 so: „Jeder, der seinen Bruder [in Christus] verleumdet, wird vor den Hohen Rat treten; wer seinen Bruder verflucht, wird dem Feuer der Gehenna [der Hölle] verfallen sein. Aber ich sage euch, wer ohne Grund seinem Bruder zürnt, wird von Gott gerichtet werden. Wenn du dich erinnerst, und sei es beim Darbringen deiner Gabe vor dem Altar, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, dann lass deine Gabe am Altar und geh hin und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder; dann komm und bring deine Gabe dar!“

Der Bruder, der die Initiative ergreifen soll, ist der, der am Altar kniet; es ist der, der dem Herrn dient. Wenn er weiß, dass er etwas zwischen ihm und seinem Bruder steht, soll er nicht weiter anbeten. Er soll alles religiöse Tun unterbrechen und die Person aufsuchen, gegen die er etwas hat. Er muss die Versöhnung suchen.

Wenn ich um sterbende, verlorene Seelen in aller Welt weinen kann, sollte ich besser auch an meinen Bruder oder meine Schwester denken, denen ich nicht nicht vergeben habe. Ich muss meinen Stolz und mein Gefühl, im Recht zu sein, herunterschlucken und sagen: „Es ist mir egal, wer Recht oder Unrecht hat. Darauf kommt es nicht an. Um Jesu willen werde ich aktive Freundlichkeit praktizieren.“

Ich kann nicht meinem Dienst für Gott nachgehen und darauf warten, dass mein Feind zu mir kommt. Jesus fordert mich auf, alles stehen und liegen zu lassen, um ihn aufzusuchen und mich um Versöhnung zu bemühen. Ich muss etwas tun, sei es durch einen Brief, einen Anruf oder das Wort eines gemeinsamen Freundes – irgendeinen entschlossenen, aktiven, mutigen, „aggressiven“ Akt der Freundlichkeit.

Sollte ich nicht auf Annahme stoßen, macht es nichts. Ich habe getan, was der Herr mir geboten hat.

Gibt es einen Menschen in Ihrem Leben, der ohne Ihren Akt beharrlicher Freundlichkeit vielleicht weiter in seiner Sünde verharrt?

Wenn wir einmal vor den  Richterstuhl treten, möchten Sie dort Ihren Feind antreffen und wissen, dass Sie nichts für ihn unternommen haben?

Wir müssen frei sein, zu leben, anzubeten und zu loben, und die Voraussetzung dafür ist, dass wir Versöhnung suchen. Wenn wir in Liebe zu unserem Feind aktive Schritte der Freundlichkeit unternehmen, werden wir vor Gott und den Menschen gesegnet und geehrt werden. Das verspricht Gottes Wort, und wir werden in der Herrlichkeit für immer mit Christus leben.